Ein Abend bei Claire • Gaito Gasdanow
Gaito Gasdanow ist ein Autor, der aus meiner Sicht ein echter Geheimtipp ist. Sein Buch Das Phantom des Alexander Wolf wird völlig nachvollziehbar der Weltliteratur zugeschrieben, trotzdem war mir sein Name lange kein Begriff. Gasdanow trat 1919 mit 16 Jahren der weißen Armee im russischen Bürgerkrieg als einfacher Soldat in den Dienst und wurde dort in einem Panzerzug eingesetzt. Vier Jahre später floh er nach Paris und schlug sich dort mit einfachen Tätigkeiten durch, bis er es schaffte Taxifahrer zu werden und somit einen geregelten Lebensunterhalt zu verdienen. Ende der zwanziger Jahre begann er Erzählungen und Romane zu publizieren und mit dem Buch Ein Abend bei Claire gelang ihm der Durchbruch in der russischen Literaturwelt im Exil. Besonders ertragreich waren die Honorare allerdings nicht und so erscheint Gasdanow ein unter dem Zeitgeschehen leidender Autor zu sein, dem Zeit seines Lebens zwar Beachtung, aber nicht die Wertschätzung zuteil wurde, die er für seine Bücher verdient hätte.
Ein Abend bei Claire hat deutlich autobiographische Züge, was das Nachwort von Rosemarie Tietze verrät. Kolja, der Protagonist der Geschichte, verbringt einen Abend bei Claire und taucht dort in seine Erinnerungen seiner Kindheit und Jugend ein. Dort durchlebt er ein Schicksal, das in vielen Punkten mit dem des Autoren übereinstimmt. So scheinen die Schilderungen des Bürgerkriegs, des Panzerzugs und der familiären Schicksalsschlägen Schilderungen zu sein, die sowohl Gasdanow, als auch sein fiktiver Kolja erleiden musste.
Über Gastdanows Texte liegt immer eine schwere Melancholie und sein Protagonist ist ein Mensch, der zwischen seinem inneren Seelenleben und der Realität nur schwer unterscheiden kann. Damit wirkt er oft emotions- und teilnahmslos, schwermütig und gleichgültig. Fast sachlich beobachten er sein Umfeld und die Gefühle seiner Mitmenschen, was mich immer wieder an Camus Der Fremde erinnert hat. Aber aus den Gedanken und den Überlegungen Koljas wird schnell klar, dass die Emotionen nur in einer anderen Form zum Ausdruck kommen.
Und merke dir – das allergrößte Glück auf Erden ist der Gedanke, du hättest wenigstens ein bisschen was begriffen vom Leben um dich herum. Du wirst nicht wirklich begreifen, es wird dir nur so vorkommen, als würdest du begreifen, und wenn dir das einige Zeit später wieder einfällt, wirst du sehen, dass du nicht richtig begriffen hast. Und noch ein oder zwei Jahre später erkennst du, dass du dich ein zweites Mal getäuscht hast. Und so ohne Ende. (S. 119)
Gasdanows Berichte sind stark geprägt vom Krieg, den er selbst erlebt hat und den zu verarbeiten ein zentrales Element seiner Bücher ist. Mit einer erschütternden Direktheit, mit sehr verschlungenen, aber angenehm lesbaren Sätzen, schildert er Details, Fragmente und Gedanken, die manchmal sprunghaft ineinander übergehen. Dabei verliert das Buch an Struktur, wirkt manchmal fast wie ein eigener Gedankenstrom, der auch willkürlich zwischen verschiedenen Themen wechselt. Der Blick für Details, für kleine Dinge und ein scheinbar mangelndes Vermögen zwischen Wichtigem und Unwichtigem zu unterscheiden, sind ganz typisch für dieses Buch. Dass darin aber eine Bedeutung liegt, wird schnell klar. Für Gasdanow ist das Verschmelzen der vielen kleinen Sinneseindrücke mit dem inneren Seelenleben, insbesondere auch der sinnlichen Liebe, eine zentrale Lebensphilosophie. Zumindest erscheint das so bei der Lektüre seiner Bücher und diese neuartige Emergenz finde ich sehr phantasievoll und einen gelungenen Gegenentwurf zum Theismus.
Ein weiteres zentrales Element seiner Bücher ist der Tod. Ich habe noch keinen Autoren erlebt, der den Tod, den Krieg und die Zerstörung und gleichzeitig die Liebe und Sinnlichkeit in einer so geschickten Form miteinander verwebt, verschmelzt und zeigt, dass beides unzertrennbar zusammen gehört.
Aber in jeder Liebe steckt auch Traurigkeit[…]. Traurigkeit über die Vollendung und den näher rückenden Tod der Liebe, falls sie glücklich ist, und Traurigkeit über ihre Unmöglichkeit und den Verlust dessen, was uns niemals gehört hat, falls die Liebe vergeblich bleibt. (S. 18)
Dieses Buch ist für mich irgendwie schwer greifbar und beim Lesen habe ich schon gemerkt, wie die Sätze, die Gedanken und sein Bewusstseinsstrom in meinem Verstand zerrinnt, wie Sand zwischen den Fingern, wenn man ihn nicht mit Gewalt festhält und die Hand zur Faust ballt. Zu ähnlich sind diese Sätze und Überlegungen den Gedanken, zu unstrukturiert und flüchtig. Ein Abend bei Claire hatte für mich zu wenig Struktur und zu viel Krieg. Zu viel Melancholie, zu wenig Liebe. Zu viel Tod und zu wenig Leben. Und in dieser Gewichtung stellt dieses Buch genau den Gegensatz zu Das Phantom des Alexander Wolf dar. Herausragend sind aber seine Beschreibungen seiner Sinneseindrücke, egal ob er ein paar Ameisen beobachtet oder über das Meer schreibt, immer findet er wunderbare Worte.
Wellen schlugen gegen die Platten der Kais, und beim Zurückfluten entblößten sie grüne Steine, auf denen Moos und Seegras wuchs; das schwankte kraftlos im Wasser, und seine herabhängenden Halme glichen Weidenzweigen; auf der Reede standen Panzerkreuzer; und die ewige Landschaft des Meeres, der Masten und weißen Möwen lebte und regte sich wie überall, wo es je ein Meer gegeben hat, einen Kai und Schiffe und wo jetzt die Steinlinien der Häuser aufragten, erbaut auf gelben Sandflächen, von denen der Ozean sich zurückgezogen hatte. (S. 160f)
Fazit: Gasdanow ist ein echter Geheimtipp und ein ganz besonderer Autor, mit einem ganz eigenen Stil. Seine Sätze sind verschlungen, gleichen oft Gedanken, die einem auch selbst durch den Verstand streifen und er schafft es dabei Themen wie Liebe und Sinnlichkeit mit Tod und Traurigkeit in Verbindung zu bringen. Kunstvoll, manchmal etwas wenig strukturiert, aber eindrucksvoll und immer mit einer tiefen Melancholie, die sowohl die Protagonisten, aber auch die ganze Stimmung erfasst und immer die Erinnerung an den Krieg aufrecht erhält und auf den Leser überträgt. Ich hätte mir hier aber weniger Kriegserinnerungen gewünscht, weniger Tod und emotionales Elend und dafür ein stärkeres Gewicht auf die Liebe und die Verbindung zur Sinnlichkeit und seiner Liebe zu Claire. Wie großartig ein solches Gleichgewicht sein kann, zeigt Gasdanow eindrucksvoll in seinem Buch Das Phantom des Alexander Wolf.
Buchinformation: Ein Abend bei Claire • Gaito Gasdanow • Hanser Verlag • 192 Seiten • ISBN 9783446244719
Eine tolle Rezension durch das gelungene Verweben Deiner Eindrücke mit Objektivität. Das Buch soeben auf meine Leseliste gesetzt. Sonntägliche Grüße!
Vielen lieben Dank für deine Worte. Schön, dass dir die Rezension gefällt. Mache Bücher sind etwas schwerer zu rezensieren und „Ein Abend bei Claire“ gehört zu solchen Büchern. Wenn du von Gasdanow noch nichts gelesen hast, dann empfehle ich eher „Das Phantom des Alexander Wolf“ zu lesen. Ein wunderbares Buch, das dieses hier in den Schatten stellt.
Liebe Grüße
Tobi
Moin,
kannte ich bisher noch gar nicht. Ich hadere allerdings noch damit, das Buch auf den SUB zu legen. Als eBook Leser habe ich ja eh ein Problem mit dem SUB: er ist nicht so richtig präsent, auf dem Reader ist das nur eine Zahl irgendwo links unten. Von daher ist man recht leicht verführt, einfach ein weiteres Buch auf den Stapel zu legen mit der Konsequenz dass die Geschwindigkeit der Zunahme wesentlich grösser ist als die Geschwindigkeit der Abnahme. Und das über einen langen Zeitraum. Wäre ja mal ein Thema für einen Blogeintrag: der SUB – das unbekannte Wesen.
//Huebi
Lieber Huebi,
eine gute Idee mit dem SuB. Das könnte man durchaus mal thematisieren, denn das scheint jeder ein wenig anders zu handhaben. Manche bunkern ganze Regale, andere, wie ich, haben nur ganz wenige Bücher auf ihrem Stapel. Aber du bist der erste mit einem eBook Reader, der einmal darüber schreibt, wie er das so macht.
Wenn das dein erstes Buch von Gasdanow ist, dann empfehle ich dir „Das Phantom des Alexander Wolf“ auf deinen Stapel zu packen. Das ist recht kurz und schnell gelesen (belastet den SuB also nicht besonders) und ist wirklich ein klasse Buch.
Liebe Grüße
Tobi