Die Kartause von Parma • Stendhal
„Der Roman über die zwei Dinge, die für Stendhal die wichtigsten seines Lebens waren: Italien und die Liebe. Fern seiner Wahlheimat, im Paris von 1839, schrieb er in nur 53 Tagen jenes Werk, das heute zu den größten der Weltliteratur zählt“. Genau so weit habe ich den Klappentext gelesen, dann habe ich das gute Stück bestellt. Das läuft manchmal so, wenn die Rahmenbedingungen passen. In diesem Fall ist das der Verlag bzw. die Reihe der Klassiker Neuauflagen, die der Hanser Verlag regelmäßig erweitert, dabei wunderbare Klassiker der Weltliteratur neu übersetzt und als schicke gebundene Ausgabe veröffentlicht. Darüber hinaus ist Stendhal ein dicker Spezi von Honore de Balzac gewesen. Gut, dicker Spezi ist übertrieben, aber die beiden standen miteinander im Kontakt, haben sich auch öfters in Salons getroffen und Balzac hat in einer Kritik Stendhals Werk hoch gelobt. Zusammen mit Balzac und Gustave Flaubert zählt man die drei zu den großen Realisten ihrer Zeit. Balzac, Flaubert, Hugo, Zola, Maupassant, Dumas, alle Bücher dieser Autoren sind einfach ein Genuss, da war klar, mit Stendhal kann ich nicht viel falsch machen.
Ich hab mich nicht geirrt und obwohl ich nur den ersten Satz des Klappentextes gelesen habe, ist dieses Buch wieder ein echter Glücksgriff. Stendal, ein Pseudonym für den in Frankreich in Grenoble geborenen Marie-Henri Beyle, hat Zeit seines Lebens Italien geliebt und dort drei längere und kürzere Aufenthalte verlebt. Zuletzt war er von 1830 bis 1841 Konsul in Civitavecchia, hat aber sehr viel Zeit mit Reisen quer durch Italien verbracht. Genua, Neapel, Rom, Florenz, Bologna, Ferrara, Venedig und, einer seiner liebsten Orte: der Comer See. Aber überhaupt war er von Italien begeistert, was auch in Die Kartause von Parma deutlich zu spüren ist. Dabei handelt es sich um seinen letzten vollenden Roman, den er 1839, genau drei Jahre vor seinem Tod, veröffentlicht. Das Buch entstand allerdings während eines längeren Urlaubes in Paris, was nicht überrascht, denn durch die Distanz hat er so seine Liebe zu dem Land wieder aufleben lassen.
Während seiner Reisen hat er viele Bibliotheken und private Archive gesichtet. 1833 hat er dann alte Handschriften aus dem 16. und 17. Jahrhundert entdeckt, die ihn faszinierten und zu diesem Buch inspiriert haben. Geschichten voller Intrigen, Liebe, Rache und Leidenschaft. Und genau so ist auch Die Kartause von Parma. Das Buch ist ein richtiger Abenteuerroman, mit dauerhaften Spannungselementen, mit allem, was dazu gehört und in diesem Punkt hat er mich stark an Alexandre Dumas Die drei Musketiere erinnert.
Stendhal beginnt mit einem kurzen Überblick über die politischen Verhältnisse in Norditalien. Fabrizio del Dongo, der Protagonist der Geschichte, ist der zweitgeborene Sohn aus adeligen Verhältnissen und es ist ein Genuss Näheres über diese Zusammenhänge, in die seine Familie verwickelt ist, zu lesen. Besonders seine Tante, die ihn protegiert und fördert, ihn aber auch abgöttisch liebt, spielt hier ebenfalls eine wichtige Rolle.
Das Buch hat autobiographische Züge und Fabrizios Abenteuer beginnt mit den Napoleonischen Kriegen und der Besetzung Mailands durch die Franzosen. Fabrizio schließt sich Napeoleon an und hier liefert das Buch eine erste, sehr spannende Episode. Er nimmt Teil an der Schlacht von Waterloo, aber Stendhal erzählt diese Episode sehr lebhaft, mit einem realistischen Blick auf den Krieg und die Menschen, die ihn ausfechten. Beyle hat selbst im Krieg gedient und war bei der Besetzung Mailands dabei. Die Erzählung dieser Kriegsszenen hat ihm von Balzac, aber auch von Tolstoi große Bewunderung eingebracht.
Dieser erste Zeitabschnitt ist auch ein erster Schritt in der Entwicklung von Fabrizio und endet darin, dass Italien nach dem Abzug der Franzosen wieder zu einem Flickenteppich aus Herzogtümer wird. Der größte Teil des Buches spielt zwischen 1815 und 1830, also der Zeit Stendhals und der Restauration. Hintergrund ist das Herzogtum Parma, aber auch die gesamte Region Norditalien. Hier handelt es sich allerdings um ein fiktives Parma und der Umstand, dass er hier den Namen Parma für sein selbst erschaffenes, aus vielen Elementen zusammen gesetztes Herzogtum wählt, hat ihn einiges an Kritik von Balzac eingebracht. Das Buch wird hier aber richtig spannend und die Mischung aus Abenteuer, Intrige, die höfische Gesellschaft und natürlich das Suchen und der Kampf um die wahre Liebe ist sehr unterhaltsam. Hier ist alles dabei: Verkleidung, anonyme Briefe, Rache, die Gesellschaft in Salon, Gefängnis, Vergiften, spannende Kämpfe, despotische Herscher, Flucht, schöne Herzoginen in prunktvollen Palais, also praktisch alles was man sich so vorstellen kann. Ganz ähnlich wie in Die drei Musketiere setzt sich das Buch aus mehreren Szenen zusammen, die zwar als Fabrizios Lebensweg sehr gut zusammen passen, aber durchaus auch voneinander getrennt sind. So ist der rote Faden recht locker, was aber dem Lesevergnügen nicht schadet. Primäres Thema ist die Liebe, Intrigen am Hofe und Italien. Ganz viel Italien. Über allen hängt ein Hauch von altmodischer Monarchie und der Glanz vergangener Tage.
Sprachlich fand ich Die Kartause von Parma erstaunlich locker und wenig poetisch. Auch das hat ihm Kritik von Balzac eingebracht, der ja selbst eine wirklich wunderschöne Sprache hat. Stendhal hat das Buch in nur 53 Tagen einem Schreiber diktiert und das merkt man dem Buch auch an. Es ist ein lockerer, knackiger und leicht zu lesender Stil. Wie gesprochen oder in der Vorstellung gedacht. Irgendwie spontan, schnörkellos und mit einer schnellen Geschichte gepaart ist das Buch so ganz anders als Balzac oder gar Flaubert schreiben würde. Letzterer hat ja beispielsweise stundenlang über seine Sätze gebrütet, um die einzige und perfekte Formulierung zu finden. Bei Stendhal ist das ganz anders und so wirkt das Buch fast wie ein zeitgenössischer Roman und hat nur wenig von einem schweren Klassiker. Ich bin hier etwas unentschlossen. Auf der einen Seite habe ich es als sehr angenehm empfunden das Buch zu lesen, auf der anderen Seite mag ich die schönen, kunstvollen Sätze, wie man sie bei Balzac, Flaubert oder auch Tolstoi findet.
Stendhal und Balzac kannten sich seit 1829 persönlich, sind sich auch einige Male in Salons begegnet, waren aber eher mit den Werken des anderen vertraut und persönlich weniger gut bekannt. Obwohl Balzac der Jüngere von beiden ist, hat er durch eine bekannte Buchbesprechung Stendhal so richtig bekannt gemacht und dadurch protegiert. Eine eigenartige Sache, denn eigentlich sollte es andersherum sein, aber Balzac war wohl einfach berühmter und als Schriftsteller besser etabliert. Allerdings war Stendhal nicht nur Schriftsteller, sondern auch ein echter Abenteurer, den Frauen und Künsten zugetan und hatte ziemlich viele Interessen. Das Schreiben war eben eine davon.
Diese Ausgabe vom Hanser Verlag ist wieder von herausragender Qualität. Hier bekommt man wirklich was geboten. Sowohl von der Verarbeitung des Buches, die gewohnt hochwertig ist, aber auch von den zahlreichen Anmerkungen und Beilagen. Viele der in dieser Rezension aufgeführten Informationen stehen in dem sehr interessanten und umfangreichen Nachwort, das sehr lesenswert ist. Hier erfährt man beispielsweise, dass Stendhal nach Veröffentlichung das Buch für eine zweite Auflage überarbeiten wollte. Dabei hat er drei Handexemplare mit leeren Zwischenseiten drucken lassen, die er dann mit Notizen für die Überarbeitung versehen hat. Die Geschichte dieser drei Exemplare könnte selbst ein Buch füllen, denn sie gingen durch viele Hände, waren zeitweise verschollen und wurden dann doch alle wieder gefunden. Diese Ausgabe besteht aus der 1839 veröffentlichten Ausgabe ohne Berücksichtigung dieser Anmerkungen, da sie alle unvollendet und nicht von Stendhal bestätigt sind. Aber sie sind übersetzt beigefügt. Genauso die Briefe zwischen Stendhal und Balzac, sowie Balzacs berühmte Rezension. Zuletzt sind auch die italienischen Manuskripte aus dem 16. und 17. Jahrhundert dabei, die für Stendhal Inspiration für diese Geschichte waren. Alles übersetzt von Elisabeth Edl, über die ich glaub ich nicht viel schreiben muss, da sie ziemlich bekannt ist und sozusagen ein Gütesiegel für das aktuell Hochwertigste ist, was man so als Übersetzung bekommen kann.
Fazit: Als Bildungsroman ausgelegt, wird sehr schön die Entwicklung von Fabrizio gezeigt und ab Mitte des Buches wird auch die Suche nach der wahren Liebe ein Thema. Und ab dieser Stelle habe ich diesen Roman so richtig lieb gewonnen. Geschickt packt hier Stendhal die dicke Spannungskeule aus. Hier ist alles dabei, von spannenden Kämpfen, viele Intrigen, schmalzigen Liebesszenen, despotische Herrscher, schöne Herzoginen in ihren prunkvollen Palais, Verkleidung, Flucht, Mord, also praktisch alles was ich mir wünsche. Hier wird der Leser durch alle Höhen und Tiefen geschleift. Dabei legt Stendhal ein angenehmes Tempo vor und wählt eine einfach zu lesende, aber dem Lesefluss sehr förderliche Sprache. Es gibt keine Stelle, die langweilig ist und hier sind hundert Seite so schnell gelesen wie sonst fünfzig. Gleichzeitig leiden die Charaktere des Romans aber an der gleichen Schwäche, wie die meisten aus der Feder der oben genannten Autoren: Sie sind häufig übertrieben und völlig überzeichnet. Ist jemand verliebt, dann aber auch völlig kopf- und willenlos. Ist jemand böse, dann aber so richtig und ist jemand ein schmeichelnder Höfling, dann aber auch komplett ohne Rückgrat. Die Geschichte bringt es voran, die Spannung steigert das, aber komplett abnehmen kann man das dem Autoren dann oft nicht mehr. Diese Ausgabe vom Hanser Verlag kommt mit einem sehr gelungenen Nachwort und vielen Beilagen, wie Briefe und die Rezension von Balzac, Zeittafeln, Entwürfe für eine Neuauflage und Anmerkungen zur Übersetzung und Begriffen. Ein Buch, das ich jeden nur empfehlen kann. Auch jenen, die eher selten Klassiker lesen und gerne zu Abenteuerromane greifen.
Buchinformation: Die Kartause von Parma • Stendhal • Hanser Verlag • 1000 Seiten • ISBN 9783446209350
Hallo Tobi,
wieder eine tolle Buchvorstellung von dir. Das Buch steht auch schon lange auf meiner Wunschliste (wie fast alle Hanser-Klassiker). Im Herbst erscheint dort ja auch der 3. Tolstoi-Band „Auferstehung“, wird wohl auch ein Pflichtkauf. Hoffe, dass dann vielleicht nächstes Jahr endlich die Neuübersetzung der Fortsetzung von „Verlorene Illusionen“ erscheint (Glanz und Elend der Kurtisanen). Die Lesung mit Elisabeth Edl hier bei uns in Duisburg vor ein paar Wochen ist leider geplatzt, hoffe, dass das bald nachgeholt wird. Bei mir steht als nächster Klassiker „Emma“ von Jane Austen an (in der Lovelybooks Klassiker-Leserunde ab 10.5.), habe mir die Manesse-Ausgabe gegönnt.
Viele Grüße
Thomas
Hallo Thomas,
vielen Dank für dein Kommentar. Oh man, sehr genial. Das hab ich gar nicht mitbekommen, dass „Auferstehung“ neu heraus kommt. Das bestell ich gleich vor, das ist ein absoluter Pflichtkauf. Klasse Neuigkeiten. Über die fehlende Ausgabe von „Glanz und Elend der Kurtisanen“ war ich auch enttäuscht. Ich hab mich dann für die Ausgabe vom Diogenes Verlag entschieden und nicht bereut. Gebunden sieht die, jenseits des Umschlags, auch sehr schick aus und man spürt beim Lesen der beiden Bücher keinen groben Bruch hinsichtlich der Qualität der Übersetzung.
Emma ist auch eine schöne Geschichte, da wirst du bestimmt deine Freude haben. Und als Manesse Bändchen sowieso 😉
Herzliche Grüße
Tobi
Beruhigend zu wissen, dass es eine lesbare Ausgabe von „Glanz und Elend…“ gibt, scheint aber nicht lieferbar zu sein, wenn man nicht gerade den ganzen Diogenes-Schuber möchte. Werde mich mal nach gebrauchten Ausgaben umgucken, danke für den Tipp.
Hallo, lese immer wieder gerne Ihre Rezensionen, auch wenn ich mich ein bißchen schäme, noch gar nicht so viele gelesen zu haben, aber die ich gelesen habe, waren gut.
Was Stendhal betrifft, habe ich ihn als Italienfreund in meine geistige Welt integriert, außerdem hat er eine sehr gute Rossini-Biografie geschrieben, die ziemlich vorne in meinem Buchregal steht.
Was seine Romane betrifft, hat der Autor ja nunmal eine sehr große Fantasie, was ja auch gut ist.
Zu „Rot und Schwarz“ ist zu sagen, dass ich auch auf meinem eigenen Reise-Blog einen Kommentar dazu geschrieben habe, bedingt durch ein Erlebnis beim Carnevale di Venezia 2016, was man schon als Wink des Schicksals deuten kann (mit etwas Fantasie).
„Die Kartause von Parma“ zieht sich ein bißchen hin, ich bin schon eine ganze Weile dran, liegt aber auch daran, dass ich nicht mehr so viel zum Lesen komme.
MfG
Thomas Roth
Lieber Thomas,
vielen Dank für das Lob. Es freut mich, wenn ich auch thematisch Deinen Geschmack treffe. Und wer Italien mag, der wird auch Stendhal lieben. Nach „Die Kartause von Parma“ hätte ich schon auch echt Lust gehabt Urlaub am Comer See zu machen. Das wäre es überhaupt: Ein Urlaub und dort am See das Buch lesen. Es soll ja Stendhal Fans geben, die das machen und sich in den Hotel einquartieren, die Stendhal damals aufgesucht hat. Hab ich zumindest mal irgendwo gelesen und irgendwie würde das auch gut passen.
„Rot und Schwarz“ fand ich irgendwie so ganz anders als die Kartause. Aber auch ein Meisterwerk, das zu lesen sich einfach lohnt.
Liebe Grüße
Tobi
Hallo, eine gute Idee mit dem Comer See.
Als ich 2014 in Florenz war, konnte ich das nach Stendhal sogenannte „Stendhal-Syndrom“ nachvollziehen,
aber eher dahingehend, dass mir nicht schwindelig wurde von der ganzen Kunst dort, sondern von den Preisen, die dort herrschen…
Die „Kartause“ vor ein paar Tagen beendet, man muss schon etwas Geduld haben, kommt mir manchmal auch etwas
langweilig vor (Gefängnishaft des Protagonisten).
Das „Italien-Buch“ Stendhals habe ich zweimal gelesen und ich schätze eher seine Fantasie, und wie er manche Dinge erfindet, so z.B ein
fiktives Treffen mit Rossini und Reisen in gewisse Teile Italiens, wo er nie war…
Aber Fantasie ist immer wichtiger als Wissen, denn Wissen ist begrenzt…
Gruß
herrrothwandertwieder
Noch ein Zusatz:
Es hieß ja immer, dass es ein reale Kartause in Parma gar nicht geben würde.
Vielleicht ist es einzelnen bekannt, aber nach meinen Erforschungen gibt es wirklich eine Kartause (Certosa di Parma), die
an der Strecke kurz vor Parma von Osten kommend, oberhalb (nördlich) der Bahn- und Autostrecke von Reggio Emilia nach Parma
liegt. 2011 bin ich dort mit der Bahn auf dem Weg von Bologna nach Parma vorbeigekommen, nur zu dem Zeitpunkt hatte ich
das Buch noch nicht gelesen.
Einst Kaserne, Tabakfabrik, jetzt Schule für Gefängsniswärter mit Kaserne, aber zu besichtigen!
Roth
Hallo,
nochmal etwas zu Stendhal. Die Stendhal-Biografie von Willms bestätigt wieder meine Meinung zu Biografien – eine Biografie ist immer die Meinung des Herausgebers und kann nie neutral sein, es kommt immer wieder eine Wort zum Tragen: …enttäuscht, enttäuscht, enttäuscht.
Wenn man natürlich wie Stendhal nur hinter Frauen her rennt, dass man dann enttäuscht ist, ergibt sich ja von selbst.
Also, besser die Romane von Stendhal lesen (und geniessen) und nicht irgendeine Biografie, dann ist man auch nicht enttäuscht.
Roth