Eine gewöhnliche Geschichte • Iwan Gontscharow
Diese neue Ausgabe und Übersetzung von Eine gewöhnliche Geschichte habe ich voller Ungeduld erwartet. Für mich ist es eines der vielversprechendsten Bücher dieses Jahres. Von Iwan Gontscharow habe ich bereits Oblomow gelesen, das ebenfalls in der hochwertigen Reihe der Hanser Klassiker erschienen ist. Das Buch hat mich damals richtig begeistert und das habe ich damals verschlungen und sehr genossen. Oblomow ist eine Charakterstudie, die man so schnell nicht vergisst und die mit viel Gefühl fürs Detail und für diesen tiefen Blick in ein menschliches Leben zu den ganz großen Werken der Literatur zählt. Eine gewöhnliche Geschichte wird im Klappentext als „der große Bruder des weltberühmten Oblomow“ beworben und da wird die Messlatte natürlich ganz schön hoch angesetzt. Zudem wurde das Buch ebenfalls von Vera Bischitzky übersetzt, einer renommierten und ausgezeichneten Übersetzerin. Alle Rahmenbedingungen klingen also nach einem Lesevergnügen feinster Güte. Ob ich in dem Buch tatsächlich den großen Bruder Oblomows gefunden habe, das erfahrt ihr in dieser Rezension.
Der junge Alexander Fjodorytsch entschließt sich, von dem Lande in die Hauptstadt Petersburg umzusiedeln, um dort eine Karriere zu starten. Er kommt dort bei seinem Onkel Pjotr Iwanytsch unter und schnell zeigt sich die Unerfahrenheit und Jugend Alexanders. Die Welt der Petersburger offenbart sich als desillusionierend und so trifft Alexander auf das nüchternen und berechnenden Weltbild seines Onkels, dass sich nach und nach als Lebensrealität herausstellt.
Das Buch beginnt erstmal langsam und schildert die Abreise Alexanders, von seinem heimatlichen Landgut. Das erinnert an Oblomow, wo es zu Beginn ebenfalls etwas langsamer zuging. Auch wenn Alexander in diesen einleitenden Szenen nicht im Mittelpunkt steht, nutzt Gontscharow diese Einführung geschickt dazu, seinen Protagonisten zu charakterisieren. Ich liebe ja diese Darstellung des ländlichen Lebens im Russland der damaligen Zeit. Das hat immer eine ganz eigenen Stimmung und erinnert stark an Rousseaus „Zurück zur Natur“ und vermittelt ein Idealbild, das es so natürlich nie gab und besonders für das Gesinde nicht unbedingt so pittoresk war, wie es auf einen Leser aus dem hier und jetzt wirken mag. Die Geschichte nimmt dann aber schnell Fahrt auf und die weiteren Seiten habe ich erstaunlich schnell verschlungen. Alexanders treiben in der Hauptstadt, seine Suche nach einem Sinn, das ist natürlich wieder sehr typisch für einen russischen Autoren.
Besonders gut hat mir Alexanders Onkel gefallen. Das ist ein richtig nüchterner Realist, der die Gefühle gering schätzt und somit ein Gegenentwurf zu den gefühlvollen und verträumten Alexander ist. Das ist ein bisschen so, wie bei The big bang theorie, wobei der Onkel Sheldon Cooper entspricht und Alexanders Pendant Leonard wäre. Der Onkel ist sehr schlau, durchschaut das Treiben Alexanders bis ins Detail und ist ihm sehr überlegen. Alexander hingegen verwirft rationale Entscheidungen und ist ein Fähnchen im Wind der Leidenschaften. Natürlich überzeichnet Gontscharow hier seine Figuren, aber es ist einfach unterhaltsam zu lesen, in welche Situationen Alexander gerät und wie besonders sein Onkel ihm Ratschläge gibt und sein Verhalten komplett durchanalysiert. Besonders die Dialoge zwischen den Beiden fand ich einfach sehr gelungen und unterhaltsam. Insgesamt war der Verlauf der Geschichte wenig vorhersagbar. Gelungen ist es auch, wie schön Gontscharow seinen Alexander über die Jahre hinweg verändert, wie die Erfahrungen ihm auch nachhängen und wie er sich immer wieder selbst widerspricht. Besonders aber zum Ende hin, haben die Figuren und ihr Denken dann doch etwas konstruiert gewirkt. In ihren Ansichten und Verhaltensweisen wirken die einzelnen Charaktere dann schon sehr auf eine Weltanschauung ausgerichtet und ich hatte dann gegen Ende des Romans immer wieder den Eindruck, dass es eher Romanfiguren als echte Menschen sind. Die Lebensphilosophie ist aber durchaus schlüssig und in seiner Gesamtheit ist das Buch und die darin dargestellte Geschichte realistisch und schlüssig.
Das Buch liest sich sehr flüssig und es sind immer wieder sehr schöne Sätze darin zu finden. Vom Tempo und Stil erinnert er an die französischen Autoren und auch in diesem Buch gibt es emotionale Liebesabenteuer, wenn auch nicht mit der Intensität, die nur den Franzosen eigen ist. Mit dem angenehmen Stil und einem schön hohen Tempo, entwickelt sich die Geschichte und der Protagonist in genau richtigem Maße weiter. Wie die Anmerkungen verraten, hat ihn Puschkin sehr inspiriert und so finden sich zahlreiche Anspielungen auf Gedichte und Texte des großen und bekannten Romanciers. Mich hat das Buch sehr gefesselt und wenn ich es zur Hand genommen habe, konnte ich es nur schwer wieder weg legen. Es ist einfach zu spannend zu lesen, was aus Alexander wird und wie das Erlebte ihn verändert. Dabei stellt auch Gontscharow ganz typisch russisch wieder die ganz großen Fragen: Nach dem Wert der Liebe, der Gesellschaft, dem Treiben der Menschen bis hin zum Sinn des Lebens. Auch der russischen Trägheit gibt sich Alexander stellenweise hin, wenn auch nicht mit der Perfektion von Oblomow. Der Klappentext, der auf das typisch russische verweist trifft hier voll zu und das hat mir an dem Buch auch wieder richtig gut gefallen. Es sind einfach alle Elemente zu finden, die so ganz typisch für die großen russischen Autoren sind. Angefangen vom Landleben, der großen Sinnsuche, der russischen Trägheit, die Weite der Steppe, Liebesgeschichten in genau dem richtigen Maß und alles durchwürzt mit der Betrachtung des großen Ganzen.
Eine alltägliche Geschichte erschien 1847, also 13 Jahre vor Gontscharows Oblomow. Wenn dann Alexander faul auf seinem Diwan liegt, dann findet man darin schon die ersten Ideen, zu seinem großen Roman. Trotzdem halten sich die Parallelen in Grenzen und Alexanders Schicksal ist schon ein anderes, wenn auch in gleicher Weise hervorragend charakterisiert. Genauso wie Oblomow verändert sich Alexander im Laufe der Geschichte, er probiert sich aus und reflektiert sein Leben. Daran wie das passiert, merkt man schon sehr Gontscharows Handschrift. Was ich auch an Gontscharows Stil sehr schön und bemerkenswert finde, ist der Humor, der zwischen den Zeilen immer wieder mitschwingt. Als Leser ist es einem klar, dass Gontscharow auch immer ein bisschen übertreibt. Obwohl das Buch durch seine Tiefe eine gewisse Ernsthaftigkeit ausstrahlt, muss man doch immer wieder schmunzeln. Über die Sprüche des Onkels oder wie Alexander mit seinem Handeln dann doch immer wieder in alte Verhaltensmuster fällt. Wenn eine heiße Schnecke ums Eck kommt, dann ist es schnell vorbei, mit den erhabenen Gedanken und Vorsätzen. Und auch der Onkel nimmt es mit seinen Weisheiten selbst nicht so genau.
Gontscharow wurde 1812 in Sinbirsk geboren. Also praktisch auch in der Provinz in einem kleinen Kaff. Die Anmerkungen verraten, dass der Roman autobiographische Züge hat und es deutliche Parallelen zu seinem eigenen Werdegang gibt. Wenn Gontscharow seinen Alexander das erste Mal Petersburg entdecken lässt, dann wirkt das schon sehr realistisch und die dargestellten Eindrücke sind wohl die des Autoren. Im Gegenzug blickt Gontscharow aus Sicht eines Stadtmenschen auf die Provinz und gerade diese kulturellen Unterschiede zeigen sehr schön die Eigenheiten der Menschen der damaligen Zeit. Das hat schon etwas Stimmungsvolles. Gerade darum geht es Gontscharow auch und seine Romane sind ein sehr schönes Portrait des Russlands seiner Zeit.
Das Buch selbst ist wieder ein Genuss. Die letzten Neuerscheinungen in der Hanser Klassiker Reihe kannte ich schon und hatte sie in einer anderen Ausgabe gelesen. Dieses Buch von Gontscharow war aber ein Volltreffer und ich hatte fast vergessen, was für ein Vergnügen die schönen Bücher aus dem Hause Hanser sind. Der Umschlag besteht wieder aus dem etwas festeren Papier, das Buch ist, wie gewohnt, in einem stabilen Leineneinband mit Fadenheftung gebunden und in Summe fühlt es sich einfach gut an, wenn man es in Händen hält, aufschlägt und über den Einband streicht. Es hat genau die richtige Größe und mit seinen zwei Lesebändchen, den vielen Anmerkungen und dem Nachwort ist es die gewohnte Premiumqualität, die man dieser Tage leider nicht so oft in einer so perfekten Form findet. Besonders schön sind auch die Farben der beiden Lesebändchen, die zueinander in einem wunderbaren Kontrast stehen und den dunklen Türkiston des Umschlagpapiers aufgreifen. Auch von der Typographie ist das Buch angenehm zu lesen. Was soll ich sagen, die Welt wäre ohne so wunderbare Bücher weniger schön und das Leben weniger lebenswert.
Die Übersetzerin Vera Bischitzky ist, wie Eingangs erwähnt, sehr erfahren und legt eine sehr angenehme Sprache vor, welche den Ton der Geschichte einfach wunderbar trifft. Bemerkenswert ist dabei, dass sie nicht adäquat übersetzbare Wörter im Original belässt oder mit einer Anmerkung versieht. So liest man hier also glücklicherweise nichts von einem Väterchen (Batjuschka) oder Mütterchen (Matuschka), wie das bei älteren Übersetzungen oft der Fall ist und mir recht bald beim Lesen aufgefallen ist. Es hat mich dann nicht überrascht, dass Vera Bischitzky in ihren Anmerkungen zur Übersetzungen das auch explizit erwähnt und auch einige Beispiele dafür bringt, wieso es falsch wäre, diese unpassenden Worte zu wählen. Im Nachwort sind auch einige Anmerkungen von Bischitzky zur Übersetzung zu finden, die ich sehr interessant fand. Darin plaudert sie ein wenig aus dem Nähkästchen und man sieht daran sehr schön, mit welcher Hingabe und welchen hohen Qualitätsanforderungen dieses Buch übersetzt wurde. So erfährt man, dass Bischitzky das Buch mehrmals laut vorgelesen hat, um den richtigen Rhythmus zu finden und um eine Wirkung zu erzielen, die mehr nach Gesprochenen und weniger nach Geschriebenen klingt. Genau so, wie das Original sich eben auch liest und diese starke Fokussierung darauf, das eine Übersetzung so stark wie möglich das ursprüngliche Werk wiedergibt, zeichnet die hochwertigen Neuübersetzungen dieser Tage aus.
Das Nachwort selbst fällt etwas kürzer aus, verrät aber doch einige interessante Details. Beispielsweise, dass die Romane Eine gewöhnliche Geschichte, Oblomow und Die Schlucht eine Trilogie bilden und es Gontscharow dabei darum ging, verschiedene russische Epochen und deren Übergang zu portraitieren. Sie schreibt auch über Gontscharows schriftstellerisches Leben und man erfährt, dass für ihn Voraussetzung für sein Schaffen, das Erzählen von selbst Erlebten und eigenen Eindrücken sind.
Fazit: Ich habe dieses schöne Buch sehr schnell verschlungen und konnte es nur schwer aus der Hand legen. Eine gewöhnliche Geschichte ist wieder ein ganz typisches Buch aus der Feder eines großen russischen Autoren des 19. Jahrhunderts. Mit all dem, wofür die russische Literatur steht, angefangen vom einfachen Landleben mit seinen originalen Charakteren, bis hin zu den großen Fragen nach dem Sinn des Lebens, der Liebe und der Gesellschaft. Oblomow fand ich zwar schon noch einmal um ein gutes Stück besser, besonders weil dort die Figuren noch schöner und nachvollziehbarer ausgestaltet sind. Eine gewöhnliche Geschichte ist aber ebenfalls von feinster Qualität. Die Ausgabe, welche von einer hervorragenden Übersetzerin vorgelegt wird und mit einer perfekten Ausstattung aufwartet, lässt wie von der Reihe aus dem Hanser Verlag gewohnt, keine Wünsche offen. Ein wunderbares Buch und eine klare Empfehlung. Für alle, die etwas für die russischen Autoren übrig haben oder denen Oblomow gefallen hat, eine absolute Pflichtlektüre. Aber auch allen anderen kann ich dieser ganz gewöhnliche Geschichte nur empfehlen.
Buchinformation: Eine gewöhnliche Geschichte • Iwan Gontscharow • Hanser Verlag • 512 Seiten • ISBN 9783446269255
Hallo Tobi,
das klingt wieder nach einem Klassiker ganz nach meinem Geschmack! Ich wollte sowieso mehr russische Werke lesen.
„Ich liebe ja diese Darstellung des ländlichen Lebens im Russland der damaligen Zeit.“
Das geht mir ganz genauso. Die Szenen mit Lewin in „Anna Karenina“ haben sich damals nachhaltig bei mir eingeprägt. Wobei ich finde, dass dieser Zauber des ländlichen Russlands seine Wirkung erst dann richtig entfaltet, wenn man als Kontrast dazu das oppulente Treiben der Großstädte präsentiert bekommt.
Liebe Grüße
Kathrin
Liebe Kathrin,
das Buch könnte schon sehr was für Dich sein. Wenn Du aber Oblomow noch nicht gelesen hast, dann gibt ihm den Vorzug. Natürlich ist da auch wieder russisches Landleben mit dabei, aber eben auch der extrem geniale Oblomow 😉
Stimmt, an die Szenen in Anna Karenina, wo er dann bei der Heumahd dabei ist und mit den Bauern zusammen arbeitet, also daran kann ich mich auch erinnern. Anna Karenina muss ich auch echt nochmal lesen, das war schon top das Buch.
Liebe Grüße
Tobi
Okay, dann wandern also direkt beide Titel auf die Merkliste. 😀 Von Gontscharow hab ich tatsächlich noch gar nichts gelesen und bin gespannt darauf, seine Titel zu entdecken.
Hi Tobi,
du lobst die Qualität der Hanser-Reihe ja sehr.
Dazu eine Frage: Wie dick ist das Papier hier?
Ich war neulich mal im Buchladen und hatte ein paar der Hanser-Bücher in der Hand. Bei jedem Umblättern hatte ich Angst, die Seite zu zerreissen. So dünne Blätter habe ich selten gesehen. 500 Seiten wo andere Bücher der selben Dicke 150 Seiten haben. Das war dann schon krass.
Insgesamt super Verarbeitung, klar, aber alleine dieser Punkt war für mich als Argument gegen einen Kauf zu stark.
Lieber Florian,
die Bücher der Hanser-Reihe sind alle ungefähr gleich dick. Was dann immer variiert ist die Papierdicke. Bei „Krieg und Frieden“ ist es Dünndruckpapier, wobei ich damit nie Schwierigkeiten hatte oder es mir eingerissen wäre. Der Vorteil ist eben, dass ein 1000 Seiten Buch trotzdem ein angenehmes Gewicht hat und schön handlich ist. Nur Chips sollte man dabei nicht essen, von Fettfingern wird das Papier so durchsichtig und das geht dann auch nicht mehr weg.
Bei den Hanser-Klassikern die etwas weniger umfangreich sind, beispielsweise jetzt dieses Buch oder auch beispielsweise „Der scharlachrote Buchstabe“ (die haben so um die 500 Seiten) da sind dann auch die einzelnen Seiten etwas dicker. Aber wie schon gesagt, ich mag die Dünndruckseiten schon auch echt gerne und wenn ich „Krieg und Frieden“ in die Hand nehme, dann sieht man trotz S-Bahn-Fahrt-Lesesessions nicht, dass ich die Bücher schon gelesen habe.
Herzliche Grüße
Tobi
Danke dir.
Das ist dann wohl persönlicher Geschmack.
Ich hasse Dünndruck wie die Pe- wie Corona. Vor allem dann, wenn überall die nächste Seite durchscheint. Unlesbar.
Am Rande: Woran könnte es liegen, dass das Kommentarformular eigentlich meinen Namen nie speichert? Andere haben ja auch immer ihren Avatar dabei.
Hallo Toni,
per Zufall bin ich auf deinen interessanten Blog gestoßen und habe mich ein wenig eingelesen.
Ich bin ebenfalls ein Fan der Hanser Klassiker und besitze einige davon.
Nach dem Oblomov ist ja nun auch ‚Eine alltägliche Geschichte‘ erschienen. Weißt du zufällig, ob auch der dritte große Roman von Gontscharow, ‚Die Schlucht‘, neu übersetzt bei Hanser erscheinen wird? Der ist zur Zeit ja leider nur in einer älteren Übersetzung antiquarisch erhältlich.
Viele Grüße
Konrad