Die Brüder Karamasow • Fjodor Dostojewski

Vor einiger Zeit war ich ein wenig ratlos, zu was für einem Buch ich greifen sollte, was zuweilen vorkommt. Mein Stapel ungelesener Bücher ist derzeit nicht sonderlich groß. Vor nicht allzu langer Zeit habe ich ein Buch von Camus gelesen und darin hat er über die inspirierende Wirkung von Die Brüder Karamsow geschrieben. Auch von anderer Seite wurde mir zugetragen, dass das Buch wirklich sehr lesenswert ist und so habe ich es kurzerhand bestellt und gelesen. Mit seinem großen Umfang und einem anspruchsvollen Inhalt, war mir von vornherein klar, dass es keine unbeschwerte Lektüre ist. Aber gerade die großen alten Klassiker bergen zumeist einen wertvollen Schatz in sich und wer sich darauf einlässt, wird nahezu immer reich belohnt. Was ihr in diesem Buch findet, das ist sehr reichhaltig. Lasst mich ein wenig davon berichten.

Die Brüder Karamsow ist ein Kriminalroman, in dem ein liederlicher und hedonistischer Vater Fjodor drei Söhne hat. Er hat sich um keines seiner Kinder gekümmert und sich stattdessen seinen Geschäften und seinem ausschweifenden Lebenswandel hingegeben. Fjodor wird umgebracht, verdächtigt wird ein Sohn, der mit ihm über Geldangelegenheiten im Streit lag. Nur vordergründig geht es darum herauszufinden, wer der Mörder ist. Vielmehr eröffnet Dostojewski einen tiefen Blick in die menschliche Psyche und spannt den Bogen bis hin zu den großen philosophischen, gesellschaftlichen und theologischen Fragen.

Das Buch ist also nur untergeordnet ein Kriminalroman. Alleine daran, wie Dostojewski seine Figuren charakterisiert, merkt man beim Lesen sofort, dass die Familie Karamasow bewusst konstruiert ist. Das macht die Figuren aber nicht weniger realistisch. Drei Brüder gibt es: Dimitri ist der leidenschaftliche, impulsive Soldat, der aufbrausend und stürmisch ist, sich schwer zügeln kann und Probleme mit Frauen und Geld hat. Iwan ist der intellektuelle Zweifler, ein Skeptiker und Zyniker, sehr gebildet und repräsentiert den aufgeklärten Rationalisten. Der jüngste Bruder ist Aljoscha, der sehr gläubig ist, sehr spirituel und asketisch auftritt und in völligen Kontrast zu seinen anderen beiden Brüdern steht.

Mir hat der Vater sehr gut gefallen, der ist Dostojewski einfach super gelungen. Ein liederlicher rücksichtloser Mann, der sich ganz den Ausschweifungen hingibt, skrupellos seine Geschäfte macht, ein mustergültiger Wucherer ist und einfach wunderbar egoistisch ist. Er macht keinen Hehl aus seiner Lebensphilosophie, ist aufbrausend, säuft und hurt natürlich ordentlich herum. Einfach sehr stimmungsvoll, wie er seinen Söhnen sagt, dass sie von ihm kein Geld bekommen, weil er es selbst braucht, denn er möchte bis ins hohe Alter seinen verdorbenen Lebenswandel beibehalten.

Eine andere wichtige Figur, die mir richtig gut gefallen hat, ist Gruschenka. Um die Frau streiten sich die Karamasows und sie hat mich sehr an die liederlichen Frauen aus Balzacs Romanen erinnert. Sie ist schön, leidenschaftlich, begehrenswert, aber zugleich gesellschaftlich nicht anerkannt, berechnend, egozentrisch und dennoch hingebungsvoll. Die Geschichte bringt sie sehr voran und fügt dem Roman romantische Leidenschaft als wichtigen psychologischen Antrieb hinzu.

Was Dostojewski in dem Roman aber entfaltet, das ist weitaus mehr als diese Hauptfiguren. Er nimmt sich viel Zeit für Nebenhandlungen und Nebenfiguren. In zahlreichen Episoden erfährt der Leser sehr viel über das gesamte Umfeld der Familie Karamsow. Einige der Nebengeschichten fand ich sehr gelungen und auch unterhaltsam. Beispielsweise über Lisaweta, die Stinkende, eine offensichtlich geistig eingeschränkte und wenig anziehende Frau, die unerwartet geschwängert wird. Manche dieser Nebenhandlungsstränge sind auch sehr ausführlich, beispielsweise der über den Starez Sossima, dessen Schüler der jüngste Karamasow Sohn ist. Das war mir an einigen Stellen auch zu viel. Gleichzeitig gibt dieser Detailreichtum dem Roman aber wahnsinnig viel Tiefe. Dostojewski baut hier ganz bewusst ein Gegengewicht zu den verdorbenen Vater auf, präsentiert dem Leser hier aber auch einen Theismus, der für ihn als Autoren auch ein Gewicht gehabt haben muss. Einen Glauben der auf Vergebung, Hingabe und Nächstenliebe basiert und nicht auf kirchliche Institutionen oder festen Glaubensregeln. Interessant fand ich an der Stelle die Rolle eines Starez, eines angesehenen und verehrten Ältesten in einem Kloster der orthodoxen Kirche, der eher eine informelle Funktion hatte und als Lehrer für Novizen auftrat. Wenn Dostojewski dann einen Lebensbericht des Starez einfügt, dann ging mir das vom Umfang doch zu weit.

Eine andere wichtige Nebengeschichte, die sich durch den gesamten Roman zieht, ist die von Iljuscha, dem Sohn eines aus dem Dienst entlassenen und verarmten Soldaten. Hier begegnet der Leser einer bedrückenden und schlimmen Armut. Mit Iljuschas Geschichte möchte Dostojewski genau diese Armut zeigen, aber auch kindliche Unschuld und wie sie durch die Welt der Erwachsenen getrübt wird. Damit portraitiert er die gesellschaftlichen Konflikte seiner Zeit, gibt dem aber auch eine theologische Komponente, indem diese Episode an die Leiden Christi erinnert.

Was in dem Roman sehr stark zu finden ist, das sind die großen metaphysischen Fragen. Das ist wieder ganz typisch für die großen russischen Klassiker. Wobei Dostojewskis eigener starker Zweifel am Glauben hier einigen Raum einnimmt. Dostojewski hatte eine gläubige Mutter, zweifelte selbst aber immer wieder am Glauben und stellte sich sein ganzes Leben hindurch komplexe philosophische und theologische Fragen. Es gab hier zwei Kapitel, die mich beim Lesen wirklich sehr beeindruckt haben. In einem erklärt Iwan, der nüchterne, aufgeklärte, atheistische Bruder, seinem jüngeren gläubigen Bruder Aljoscha seine Zweifel an Gott. Iwan argumentiert, dass ein allmächtiger und gütiger Gott, der das Leid von Kindern zulässt, nicht existieren kann. Das ist der Punkt, an dem Iwan scheitert und Dostojewski vermittelt das mit wirklich starken Worten und Sätzen, er argumentiert mit Beispielen, in denen Kinder unschuldig zu Opfern wurden und führt dies als schwerwiegendes Argument gegen den Glauben an Gott an. Er stellt die Frage, ob es moralisch gerechtfertigt ist, dass Kinder für die Sünden der Menschheit leiden müssen.

In einem zweiten Kapitel, erzählt Iwan die Geschichte des Großinquisitors. Im Sevilla des 16. Jahrhunderts, während der Inquisition, erscheint Jesus. Er heilt einen blinden Greis und erweckt ein totes Kind zum Leben. Der Kardinal-Großinquisitor beobachtet dies und lässt Jesus verhaften und hält ihm einen langen Monolog, in dem er erklärt, dass Jesus kein Recht habe, die Kirche zu stören. Er argumentiert, dass die Menschen die Freiheit nicht ertragen können und dass die Kirche die Aufgabe hat, die Menschen zu kontrollieren und ihnen Sicherheit zu bieten. Auch diese Geschichte wird mit einer Eindringlichkeit erzählt, die den Leser einfach packen muss. Jesus, der nicht mehr gebraucht wird, weil die Menschen die Freiheit nicht vertragen.

Ich fand viele Kapitel in dem Roman sehr unterhaltsam und habe sie mit großer Aufmerksamkeit verschlungen. Andere hingegen habe ich als sehr langatmig empfunden. Beispielsweise die Gerichtsverhandlung mit den ausführlichen Plädoyers und Reden war schon sehr übertrieben umfangreich. Zudem ist die Grundstimmung oft sehr deprimierend und trübe. Es gab Tage, da wollte ich einfach nicht zu dem Buch greifen, da wäre mir das echt zu schwer gewesen. Trotzdem wurde ich mit dem Roman reich belohnt, denn es gab viele Szenen und auch Charakterisierungen durch das, was die Figuren denken, die einfach faszinierend und bewegend sind. Die Offizierstochter Katerina beispielsweise, fand ich wahnsinnig gut herausgearbeitet. Ihre Beweggründe und Gefühle, die sind einfach echt, die habe ich Dostojewski komplett abgekauft, wenn mir jemand sagen würde, dass diese Frau echt existiert hat und genau so war, würde ich das glauben. So detaillierte psychologische Einblicke in das Denken von Figuren kenne ich bisher primär aus den Erzählungen von Henry James.

Was steckt also in diesem Roman? Wahnsinnig viel. Ja, ein Kriminalroman. Aber darüber hinaus Fragen zu zwischenmenschlichen Beziehungen, Fragen nach Philosophie, Glaube, Gesellschaft, Psychologie, Gerechtigkeit. Es ist auch ein Portrait der russischen Gesellschaft dieser Zeit, die unter dem Einfluss der westlichen Aufklärung stand, die kurz zuvor die Bauernbefreiungen durchlebt hat und dennoch von der russischen Seele geprägt war (der echten russischen Seele des 19. Jahrhunderts, nicht dem, was man dieser Tage so mitbekommt).

Ich habe mir die Dünndruck-Ausgabe vom Anaconda Verlag geholt. Die ist auch nicht gerade low budget, aber schon angenehm hochwertig. Man bekommt zwar keine Extras, wie Fadenheftung oder Leineneinband, stattdessen einen schnöde gestalteten Pappeinband, aber insgesamt ist das Buch solide verarbeitet. Die Übersetzung von Hermann Röhl ist schon älter, von 1924, wurde aber für das Buch behutsam überarbeitet, und liest sich flüssig und angenehm.

Fazit: Der faszinierende und umfangreiche Roman Die Brüder Karamasow ist eine außergewöhnliche Lektüre. Nicht leicht zu lesen, mit der oft deprimierenden Grundstimmung, mit vielen langatmigen Szenen, aber mit einem wahnsinnig breiten Spektrum. Dostojewski macht gerade vor den großen philosophischen und theologischen Fragen nicht halt und besonders Iwans Zweifel am Glauben fand ich sehr bewegend zu lesen, denn darin habe ich Dostojewskis eigenen Kampf mit sich selbst wieder gefunden. Aber auch der tiefe psychologische Einblick in die Figuren hat mich immer wieder beim Lesen sehr gefesselt. Wie Dostojewski die Brüder, aber auch die Figuren um die Karamasows herum charakterisiert, das ist eine große Leistung, spannend zu lesen und voll mit Feinheiten, die einen unwillkürlich zum Nachdenken bringen. Ein Buch, das man problemlos mehrfach lesen könnte und dennoch zahlreiche neue Dinge entdecken würde. Aber man muss sich die Zeit nehmen und darauf einlassen. Es ist kein Roman, den man mal so nebenbei liest. Wer sich aber darin vertieft, der wird darin etwas finden, sicher etwas für sich finden, denn die Gedanken, die sich Dostojewski darin macht, die sind zeitlos.

Buchinformation: Die Brüder Karamasow • Fjodor Dostojewski • Anaconda Verlag • 1264 Seiten • ISBN 9783730611623

7 Kommentare

  1. Eine sehr schöne Rezension! Wie es der Zufall so will, habe ich erst vor wenigen Tagen eine unverschämt günstige Ausgabe aus dem Ammann Verlag ergattert.

    Allerdings werde ich mit der Lektüre wohl noch etwas warten – wie du gut herausgearbeitet herrscht bei Dostojewski oft eine nur schwer zu ertragende negative Grundstimmung vor, die (zumindest (auch) mich) sehr leicht herunterziehen kann – da ist zwischen zwei seiner Romane eine längere Pause erforderlich!

    1. Lieber Eugen,

      genau so geht es mir auch. Bei Dostojewski findet man auch immer diese bittere Armut und auch wenn ich mich nicht auch gegen negative Szenen verschließe, jeden Abend braucht man so etwas natürlich nicht. Ich finde die Figuren auch oft etwas finster von ihrer Art zu denken, was ebenfalls nicht gerade die Stimmung hebt. Aber gleichzeitig bekommen die Bücher gerade durch dieses Ausloten der Grenzen ihren Tiefgang.

      Bei mir warten manchmal Bücher echt ewig, bis ich sie lese. Manchmal ist es also auch ganz gut, ein Buch so lange abhängen zu lassen, bis man mental ready dafür ist 😉

      Liebe Grüße
      Tobi

  2. Ich habe mich bisher noch nicht an das Buch herangewagt. Dies aber weniger wegen Dostojewskis trüber Grundstimmung, sondern wegen des Umfangs. Es würde mich interessieren, Tobi, wieviel Lesezeit du für diese Lektüre investiert hast.

    1. Lieber Michael,

      ich habe etwa zwei Monate dafür gebraucht. Aber nicht jeden Abend daran gelesen und bin es ganz gemächlich angegangen. Es liest sich schon angenehm flüssig, also die Sprache ist nicht sperrig oder so. Mich hat oft dann die Stimmung des Buches ein wenig abgehalten. Und die alltäglichen Verpflichtungen. Die Lektüre kann ich aber durchaus empfehlen, es hat sich auf jeden Fall gelohnt.

      Liebe Grüße
      Tobi

  3. Hallo Tobi,
    was doch so eine (kurze) Blogpause ausmacht – schon schreibst Du so eine exzellente Rezension, Glückwunsch!
    Exzellent sage ich weil Du genau gelesen und geschrieben hast. Und unterschiedliche Aspekte aufgegriffen hast, wunderbar. Insbesondere zu den großen metaphysischen Fragen, wie die Sache mit Gott, sagst Du etwas
    Von den großen Russen (Puschkin, Tolstoi, Tschechow, Gorki, Turgenjew, Dostojewski) finde ich eben letzteren am schwierigsten, weil so depressiv. Wobei ich »Der Spieler« und »Der Idiot« seinerzeit verschlungen habe. Nur bei »Die Dämonen« musste ich passen, von den zwei Bänden meiner Ausgabe hab ich nur die erste gelesen, wirklich zu depressiv 🙁
    Vielleicht kann ich Dich mit meinem Lob etwas motivieren, die »russische Spur« noch etwas verfolgen? Bei Tolstoi warst Du ja schon fleißig, aber ohne Puschkin, ohne Gorki fehlt doch etwas im Leseleben!
    Bloggergrüsse aus Berlin!

    1. Lieber Michael,

      vielen Dank für das positive Feedback. Deine Einschätzung zu der Besprechung freut mich sehr. Das ist ein Buch, das zu rezensieren schon schwieriger ist, weil es eben keine so klare Linie hat. Ja, das mit der depressiven Stimmung bei Dostojewski geht mir ganz genauso. Ich brauch auch nun eine lange Pause, bis ich wieder ein Buch von ihm lesen.

      Gorki habe ich noch nicht gelesen, aber Puschkin schon. Wobei er, ähnlich wie Tschechow, bei mir nur bedingt gezogen hat. Turgenjew, Tolstoi, Gontscharow und auch Dostojewski haben da einfach einen elaborierteren Schreibstil und wagen sich schon sehr direkt an die großen Themen, was ich sehr genieße. Aber ganz fair bin ich nicht, zwischen Puschkin und Tolstoi liegt halt schon auch nochmal viel Zeit, in der sich die Literatur sehr stark entwickelt hat.

      Liebe Grüße
      Tobi

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert